Warum beschäftige ich mich mit Experimenten in der Organisationsentwicklung? Ist das nicht ein alter Hut? Nein. Die meisten Unternehmer, denen ich begegne, können sich nicht vorstellen, dass man über Experimente ihr Unternehmen stetig weiterentwickeln kann. Ja, klar, hier und da mal ein Projekt oder „Pilot“. Aber Experimentieren als Daueraktivität?
Deshalb heute mal drei Fehlannahmen und drei praktische Tipps zu Experimenten.
Drei Fehlannahmen
Häufig begegnet mir folgende Aussage: „Bei der letzten Reorganisation wurde leider nicht alles bedacht. Es wurden auch ein paar Kommunikationsfehler gemacht. Daher müssen wir nun, drei Jahre später, noch einmal eine Reorganisation angehen. Aber dieses Mal wird es bestimmt den erhofften Erfolg bringen.“
Wenn ich dann nachbohre, stellt sich heraus, dass die Unternehmensgeschichte auch als eine lange Kette von Reorganisationen erzählt werden kann – die alle nicht den jeweils erhofften Effekt hatten. Die Ergebnisse blieben nicht nur hinter den Erwartungen zurück. Es traten auch jedes Mal unbeabsichtigte Effekte auf, welche die Wertschöpfung zusätzlich störten.
Was steckt dahinter? Ich glaube, da wirken drei Fehlannahmen.
Erstens, es besteht die Annahme, dass es so etwas wie die „perfekte Organisation“ geben könnte. Zumindest für eine Weile. In der perfekten Organisation gibt es keine Dysfunktionalitäten, keine Paradoxien, keine Konflikte. Leider ist die perfekte Organisation eine Fata Morgana. Wenn man Schritte auf sie zumacht, wandert sie wieder ein Stück fort. Denn jede Organisationsform liefert ihre Dysfunktionalitäten mit und soll ja gerade mit dauerhaften Paradoxien umgehen.
Zweitens, eine Organisation wird als etwas von Natur aus Statisches angesehen. Veränderungen an der Organisation folgen einer mechanischen Vorstellung von unfreeze, change, refreeze. Daher sind die Veränderungsaufwände hoch und anstrengend und sollten nicht zu häufig stattfinden. Tatsächlich aber sind Organisationen vitale Systeme, welche ständig in Bewegung und Veränderung sind. Einen statischen freeze-Zustand gibt es gar nicht.
Drittens, Organisationen werden als komplizierte Systeme verstanden, welche man vollständig analysieren und planen kann. So werden Wertschöpfungsprozesse und Abteilungsstrukturen für hunderte oder gar tausende Menschen am Reißbrett entworfen. Was übersehen wird: Organisationen sind komplexe, eigendynamische Systeme. Ein wichtiger Teil der Kommunikation und Wertschöpfung passiert im informellen Bereich der Organisation. Im Schatten, dort wo Organigramm und Prozessanweisungen keine Dominanz haben. Wenn in den formalen Strukturen etwas verändert wird, werden auf der informellen Ebene Anpassungsbewegungen geschehen. Und diese entziehen sich der formalen Gestaltungsmacht.
Nach den typischen Fehlannahmen nun zu den praktischen Tipps.
1. Hypothesengetriebene Experimente
Ein Organisationsexperiment soll eine Hypothese prüfen. Es besteht die Vermutung, dass sich Arbeit besser organisieren lässt. Dazu sollte klar beschrieben werden, am besten schriftlich, welche Hypothese man verproben möchte und welches Problem sich damit hoffentlich lösen lässt.
Mit Experimenten können für die komplizierte Wertschöpfung dauerhaft gültige Erkenntnisse gewonnen werden. Für die komplexe Wertschöpfung kann maximal der Nachweis erbracht werden, dass es in diesem konkreten Fall funktioniert hat – ohne Garantie, dass sich an anderer Stelle derselbe Effekt wiederholen lässt. Aber einen Versuch könnte es auch dort wert sein.
Experimente sollen Verbesserungen an den Arbeitsweisen vorantreiben. Dazu gehört auch, dass negative Ergebnisse positiv behandelt werden. Wenn eine Hypothese in der Praxis keinen Bestand hatte, kann dennoch etwas Wichtiges gelernt worden sein. Und der Umgang mit positiven und negativen Ergebnissen kann einen großen Einfluss auf die Kultur des Unternehmens nehmen.
2. Formal geschützte Freiwilligkeit
Experimente sollten ausschließlich von Freiwilligen durchgeführt werden. Der Wille und Fokus der Beteiligten ist für den Ausgang eines Experiments entscheidend. Ihr Einsatz und ihre Talente werden gebraucht. Dazu muss es ihre persönliche Angelegenheit sein. Experimente sind keine Spielerei und auch keine Pflichtveranstaltung.
Damit sich alle Beteiligten engagieren können, braucht das Experiment formale Legitimation. Ein Entscheider mit ausreichender Autorität muss das Experiment vor möglichen Angriffen aus der restlichen Organisation schützen.
Natürlich kann es auch mal „kleine Experimente“ geben, die den Immunapparat der Organisation nicht herausfordern und daher auch keinen Schutz bedürfen. Meist liefern sie aber auch kaum Fortschritt.
3. Reflexives Lernen
Jedes Experiment hat eine Laufzeit. Während des Experiments lohnt es sich, Zeit in gemeinsame Reflexion investieren (Retrospektiven), um Muster zu erkennen und Anpassungen vorzunehmen. Am Ende der Laufzeit wird eine Abschlussbetrachtung durchgeführt und das Experiment ausgewertet.
Die Reflexion endet mit der Entscheidung, ob die neue Arbeitsweise an dieser Stelle beibehalten wird und wie das Gelernte im Unternehmen geteilt wird.
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Fazit
Warum arbeiten agile Teams in der Softwareentwicklung in kleinen Schritten, in Iterationen? Weil sie Softwareentwicklung als ein komplexes Unterfangen verstehen. Folgt man dieser Logik, liegt es auf der Hand, auch das hochkomplexe Unterfangen der Organisationsentwicklung in kleinen Schritten anzugehen, in Experimenten.
Die Wirkung regelmäßiger, vermeintlich kleiner Organisationsexperimente wird häufig unterschätzt und die Wirkung großer, planmäßiger Reorganisationen überschätzt. Wenn eine große Reorganisation notwendig erscheint, ist das ein Hinweis darauf, dass wahrscheinlich in der Vergangenheit nicht regelmäßig an der Organisation gearbeitet wurde.
Wie es in der Praxis aussieht, kannst Du Dir im intrinsify Podcast in der Episode „20 Jahre erfolgreich mit Experimenten“ mit Fady El-Murr, Gründer und Geschäftsführer der pressrelations GmbH, anhören.