Das Handelsblatt ist im November 2023 einer großen Sache auf der Spur. Journalisten haben Experten interviewt und Studien ausgewertet, um den wahren Problemen des Personalmanagements auf den Grund zu gehen. Dazu gleich mehr. Aber vorab …
… eine kleine Zeitreise
Als ich am 13. November 2005 im indischen Bangalore den Flughafen verließ, traf ich auf schwüle Wärme, Staub und Straßenlärm, die mich die nächsten Monate begleiten sollten. Ich war angekommen in einem fremden Land, das ich noch lieben würde. Und ich war angekommen in meinem ersten Job nach dem Studium. Es war mein Einstieg im professionellen Personalmanagement. Ab sofort war ich Mitglied im Talent Transformation Team von HCL Technologies. Oder anders: Ich war Trainer und E-Learning Creator in der Personalentwicklung.
Am anderen Ende der Welt begann meine Reise, einmal quer durch die HR-Landschaft. Nach meiner befristeten Zeit in Indien übernahm ich einen Job im deutschen Mittelstand, mit allen typischen Personaler-Aufgaben: Mitarbeiter gewinnen, Personaleinsatzpläne schreiben und ständig umschreiben, Schulungen organisieren, HR-Prozesse aufbauen, Lohnbuchhaltung vorbereiten, Mitarbeitergespräche führen, Mitarbeiter entlassen und dem Chef sein mangelhaftes Führungsverhalten spiegeln.
Über die Jahre habe ich als Personaler in unterschiedlichen Branchen gearbeitet und mich im Feld der Personalentwicklung spezialisiert. Talentmanagement, Potentialkonferenzen, Work-Life-Services, Ausbildungspläne, Innovation Camps, Learning Expeditions – nichts war mir fremd. Zuletzt war ich in der ProSiebenSat.1 Gruppe verantwortlich für die Weiterbildungsakademie und die Führungskräfteentwicklung.
Auf meiner Reise durch die hüglige HR-Landschaft habe ich viele Gefährten getroffen und schätzen gelernt. Für fünf Jahre hatte ich das Vergnügen, im Bundesverband der Personalmanager*innen die Fachgruppe für Personal- und Organisationsentwicklung zu leiten. Für hunderte HR-Verantwortliche und HR-Experten habe ich Workshops und Events gestaltet und viel über unsere Praxis und Profession gelernt. Ich kenne die Geschichten, die wir uns erzählen und den latenten Selbstzweifel.
Ich habe Dich mit auf diese kleine Zeitreise genommen, damit Du meine Perspektive auf das Thema besser nachvollziehen kannst.
Die Probleme von HR
Das Handelsblatt trägt in einem Artikel mit dem Titel „Personaler unter Druck“ die angeblich wichtigsten Probleme des Personalmanagements 2023 zusammen.
Problem 1: HR fehlt die Anerkennung
Problem 2: HR hat zu wenig Entscheidungsmacht
Problem 3: HR ist zu wenig in die Gesamtstrategie eingebunden
Problem 4: HR ist unterfinanziert
Problem 5: HR ist überlastet
Jeden dieser Punkte könnten wir ausführlich diskutieren. Aber etwas ganz anderes ist entscheidend: Alle hier aufgeführten Probleme sind Klassiker. Sozusagen die HR-Evergreens. Die Problembeschreibung war Mitte der 1990er Jahre nicht anders als heute.
Deswegen hatte Dave Ulrich 1997 seinen Bestseller „Human Resource Champions“ veröffentlicht. Das Buch diente als Basis für das sogenannte HR-Drei-Säulen-Modell, das in immer mehr Unternehmen eingeführt wurde. Die Schlagworte lauten hier: Center of Expertise, HR Business Partner und Shared Service Center. Leider misslang in den meisten Unternehmen das, worum es Ulrich im Kern ging.
Es geht um den Geschäftserfolg
In einem Interview mit dem Harvard Business Manager sagte Ulrich 2020 über seinen Anspruch, den er seit den 1990er Jahren verfolgte:
„Die Grundannahme ist auch heute noch aktuell: Bei HR geht es nicht um HR, sondern ums Business. Personalverantwortliche sollten sich deshalb zuallererst um das Geschäft kümmern. Das heißt, sie sollten ihren Erfolg nicht daran messen, wie viele Mitarbeiter sie einstellen oder ausbilden, sondern daran, wie stark ihre Arbeit zum Geschäftserfolg beiträgt.“
Das ist des Pudels Kern: Wenn HR-Arbeit diesen Anspruch erfüllt, lösen sich alle vom Handelsblatt zusammengetragenen „Probleme“ auf. Sie sind nur Symptome eines tiefer liegenden Problems: einer Personalarbeit, die sich zu stark von der Wertschöpfung und deren Probleme abgekoppelt hat.
Das deckt sich auch mit meiner Erfahrung als Berater moderner Organisationen. Wo immer der Fokus der HR-Arbeit auf den Unternehmenserfolg ausgerichtet wird, erlangt HR in der Unternehmensleitung hohe Anerkennung, starke Einbindung und ausreichend Mittel. Das Personalmanagement darf sich nicht von einer vermeintlichen, dysfunktionalen „HR-Professionalität“ ablenken lassen. Nur zu leicht kann das, was öffentlich als „professionelles Personalmanagement“ präsentiert wird, davon ablenken, dass im eigenen Unternehmen für den Erfolg etwas ganz anderes benötigt wird.
Und es geht um Organisationsentwicklung
Neben der Neuausrichtung der HR-Aktivitäten gibt es noch eine zweite Aufgabe, um auch langfristig zum Geschäftserfolg beitragen zu können. In vielen Unternehmen herrscht eine Verantwortungslücke zwischen der Geschäftsführung und der Personalleitung, die geschlossen werden muss: die Verantwortung für die Organisationsentwicklung. Zu den Hintergründen habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben, den Du hier findest.
Die Forderung an HR, sich stärker auf Wertschöpfungsteams und die Organisation zu fokussieren, statt nur auf individuelle Mitarbeitende, ist nicht neu. Sie wurde nur in der Praxis lange ignoriert. Doch langsam tut sich etwas. In den letzten Jahren setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Unternehmen im Wettbewerb nicht nur talentierte Mitarbeitende benötigen. Es kommt vor allem darauf an, wie die Zusammenarbeit organisiert wird. Diese gewachsene Bedeutung der Organisation spiegelt sich auch im Trend wider, dass sich Personalabteilungen umbenennen in „People & Organisation“ (P&O).
Damit nicht nur eine Umetikettierung geschieht, sondern P&O tatsächlich erfolgsrelevante Leistungen im Bereich Organisation anbietet, müssen neue Kompetenzen aufgebaut werden. Die aktuelle BPM-Berufsfeldstudie „People & Organization“ zeigt, dass häufig Nachholbedarf im Bereich wirksamer Organisationsentwicklung besteht.
Rollenwechsel ins Ungewisse
Die bisherige HR-Landschaft mit ihren Methoden, Prozessen und IT-Systemen ist auf den „Lebenszyklus“ individueller Mitarbeitenden ausgerichtet. Die Neufokussierung auf den Geschäftserfolg und die Erweiterung um die Organisationsentwicklung bieten zentrale Anhaltspunkte, um schrittweise aus der HR-Landschaft eine P&O-Landschaft zu gestalten. Dazu müssen liebgewonnene Praktiken aufgegeben und das eigene Selbstverständnis überarbeitet werden.
Es ist eine ungewohnte Vorstellung, die Rolle eines OE-Experten einzunehmen, um wertschöpfungsorientiert Probleme der Zusammenarbeit zu lösen. Der Rollenwechsel ist oft mit viel Unsicherheit verbunden. Man verlässt sein gewohntes Terrain und betritt die Domain des „Business“, um dort jenseits der personalwirtschaftlichen Logik mitzumischen. Neben dem fachlichen Wissen zu Führung, Zusammenarbeit, Systemtheorie und Organisationsentwicklung wird ein stabiles Rollenverständnis und viel Entdeckergeist gebraucht.
Fazit
Der Wandel von HR zu P&O passiert nicht an einem Tag. Aber er beginnt mit der klaren Entscheidung, den klassischen Pfad des Personalmanagements zu verlassen, neue Wege zu gehen, um den Beitrag zum Unternehmenserfolg zu steigern – und endlich die strategische Bedeutung zu erlangen, die die letzte HR-Transformation den meisten Unternehmen schuldig geblieben ist.